Nackte Tatsachen

von Ruth Katharina Breuer

»Ahhhh …«, stöhnte Kurt Kosubke und reckte sich wohlig in der Sonne. Die brannte bereits den ganzen Tag auf den betonierten Innenhof, den er mit ein paar Geranien und einem praktischen Camping-Set gemütlich hergerichtet hatte. An die »Weiße Scholle« in Sankt-Peter-Ording kam das hier nicht heran, aber seit der Scheidung konnte er sich den jährlichen Sommerurlaub im FKK-Club nicht mehr leisten. Jetzt lag er auf der Klappliege seiner Exfrau Beate und arbeitete an seiner Sommer-Röstung, wie sein Kumpel Kalle sagen würde. Kurt Kosubke grinste. Wie gut, dass ihm wenigstens das Haus geblieben war. Und die Klappliege. 

 

In der oberen Etage bewegte sich ein Vorhang. Kurt Kosubke zog den Bauch ein und schielte nach oben. Seine Mieterin war offensichtlich wieder da. Vorhin im Hausflur war leider kein Gespräch zustande gekommen. Er hatte nur schnell den Müll rausbringen wollen, bevor die Tonnen wieder tagelang in der Sonne stanken. Die kleine Peters war um diese Uhrzeit normalerweise bei der Arbeit. Doch dann hatte sie plötzlich dagestanden. Sie hatte ihn angestarrt wie eine Erscheinung und war ohne ein Wort des Grußes zur Haustür hinausgestürmt. Er hatte ihr noch etwas hinterher rufen wollen, es sich dann aber anders überlegt. Dies war schließlich sein Haus. Hier konnte er so oft und so lange in der Sonne liegen, wie er wollte, ob nun mit oder ohne Slip.

 

 

»Ahhhh …«, stöhnte Yvonne Peters eine Etage höher und zuckte vom Fenster zurück. Angewidert verzog sie das Gesicht und spürte ein heißes Erröten. Ärgerlich schüttelte sie das Gefühl des Ertapptseins ab. Sie hatte ihren alternden Vermieter nicht gebeten, sich wie ein Pfau im Hof zu präsentieren. Vorhin war sie ihm im Flur begegnet und auch da hatte er nichts getragen außer der Mülltüte. Es war ihm nicht mal peinlich gewesen. Diese Bilder würde sie nicht mehr aus dem Kopf bekommen. Sie wollte sich nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn nicht sie, sondern Anni die Treppe herunter gekommen wäre. Ihre Nichte war in einem schwierigen Alter. Als Anni neulich bei ihr übernachtet hatte, war sie morgens aus der Dusche gekommen und hatte das Badetuch wie eine Kutte um sich geschlungen. Dabei quietschte sie noch: »Iiihhh, Du sollst weggucken!«. 

 

Yvonne Peters reckte aus sicherer Entfernung den Hals und spähte nochmal durch den Vorhang. Der Kosubke lag wie ein Buddha auf seiner rostigen Liege und hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt. So konnte das nicht weitergehen. Sie würde ihre Schwester anrufen. Sanne würde wissen, was zu tun wäre. Vor allem, wenn es dabei um ihre eigene Tochter ginge.

 

 

»Ahhhh …«, stöhnte Giuseppe S’Angolo ein paar Straßen weiter und drückte sich die Fäuste in den Rücken. Noch eine letzte Lieferung, dann war endlich Feierabend. Er kurbelte die Fenster des kleinen Fiats herunter, aber es wehte kein Lüftchen. Schon den ganzen Tag verwandelte die Sonne das Fahrzeug in einen rollenden Pizzaofen. Und ein Kunde war verrückter als der andere. Die letzte Pizza hätte er fast wieder mitgenommen, weil niemand auf sein Klingeln reagierte. Als er gerade wieder gehen wollte, riss eine Frau die Haustür auf und stürmte heraus. Durch die geöffnete Tür hatte er einen nackten Mann im Hausflur stehen sehen, der eine Mülltüte in der Hand hielt und ihn fröhlich grüßte, bevor er sich wie ein Grill-Hähnchen drehte und im hinteren Teil des Hauses verschwand. Die Frau hatte ununterbrochen vor sich hin geschimpft, während sie die Lieferung entgegennahm. Giuseppe hatte ihr die Pizza und den neuen Prospekt in die Hand gedrückt und war verschwunden, so schnell er konnte.

 

 

»Ahhhh …«, stöhnte Susanne Peters-Berghoff am anderen Ende der Stadt und blickte auf den nicht kleiner werdenden Stapel Akten vor ihr. Seit acht Uhr war sie nicht ein einziges Mal von ihrem Schreibtisch aufgestanden. In ihrem Kopf drängelten sich Fakten und Zahlen wie in einem überfüllten Bus. Und immer wieder stiegen neue ein. Sie erinnerte sich noch an ihre ersten Berufsjahre, in denen man sich wenigstes auf das Sommerloch verlassen konnte. Doch spätestens seit Corona gab es keine Pausen mehr. Jeder fuhr permanent Vollgas in einem viel zu niedrigen Gang. 

 

Ihr Handy klingelte. Wahrscheinlich wieder ein Mandant, der sich drei Tage nach seinem letzten Anruf danach erkundigen wollte, ob sein Fall mittlerweile gewonnen sei. Sie meldete sich mit einem kurzen »Ja?«.

 

»Sanne, ich bin’s. Gut, dass Du da bist. Ich brauche Deine Hilfe.« Ihre Schwester Yvi brachte wie immer mehrere Sätze in einem Atemzug unter und wartete gar nicht erst auf eine Antwort. 

 

»Ich hab Dir doch von meinem Vermieter erzählt. Der läuft schon wieder splitternackt durchs ganze Haus und grinst blöd, wenn er einen trifft. Stell Dir mal vor, Anni läuft diesem notgeilen Typen in die Arme! Das ist Belästigung! Oder Nötigung? Ich hab jetzt auch einen Zeugen. Der Pizzabote hat den Kosubke heute gesehen, hundertpro!« 

 

Sie schnappte nach Luft wie nach einem langen Tauchgang. 

 

»Sanne? Bist Du da?« 

 

Susanne Peters-Berghoff seufzte. 

 

»Hallo Yvi. Mir geht es auch gut, danke der Nachfrage. Jetzt erzähl mal ganz in Ruhe, was passiert ist. Und vor allem, was meine Tochter damit zu tun hat.«

 

Nachdem das Telefonat beendet war, starrte sie noch eine Zeit lang auf ihr Handy. Yvi hatte recht. Anni war wirklich gerade schwierig, mitten in der Pubertät und sehr empfindlich. Sie gab sich einen Ruck, entsperrte ihren Rechner und startete die juristische Datenbank. Als Suchbegriffe wählte sie Vermieter, Belästigung, Schadensersatz.

 

 

»Ahhhh …«, stöhnte Anni Berghoff zur gleichen Zeit in der Innenstadt und biss die Zähne zusammen. Heute tat es besonders weh. Aber es würde sich lohnen. Nicht mehr lange und es wäre fertig. Sie hob ihren Kopf von der Liege und versuchte, etwas zu erkennen.

»Nicht zappeln«, wurde sie sofort ermahnt. 

 

Neulich nach dem Duschen hätte Tante Yvi ihr Geheimnis fast entdeckt, wenn sie sich nicht schnell ein großes Handtuch umgewickelt hätte. Sie musste echt vorsichtiger sein. Nicht auszudenken, was ihre Mutter wieder für einen Aufstand machen würde, wenn sie davon erführe. Erst recht, weil die Unterschrift auf der elterlichen Einwilligungserklärung gar nicht ihre war.

 

»So, fertig für heute! Noch eine Sitzung, dann hast Du es geschafft.« Der bärtige Tätowierer rollte mit dem Hocker zurück und betrachtete zufrieden sein Werk. Die Schlange wand sich von Annis linker Schulter den Rücken hinunter um ihre rechte Hüfte bis zum Bauchnabel, der die Mitte des weit geöffneten Mauls bildete. 

 

 

»Ahhhh …«, stöhnte Gerlinde Holtmann ein paar Monate später und knallte den Hörer auf die Gabel. In ihrem muffigen Amtszimmer wurde es langsam dunkel und die alte Schreibtischlampe flackerte mit dem monströsen Bildschirm um die Wette. Wie sehr sie diesen Amtsschimmel leid war. Wer telefonierte denn heute noch mit dem Festnetz? Und dann musste sie sich auch noch mit ihrem faulen Kollegen herumschlagen, der sie zwei Monate vor ihrem Ruhestand bat, ihm Verfahren abzunehmen. Ihr reichte es, für heute und insgesamt. Sie überflog noch einmal das Urteil und speicherte die Datei. Dann schloss sie die Akte mit den Aussagen des Pizzaboten und der Exfrau und sandte das Urteil zur Ausfertigung an die Geschäftsstelle. Für die Pressestelle formulierte sie eine Überschrift und den Tenor ihres Urteils und versandte auch diese Email. Beim Verlassen ihres Amtszimmers schüttelte sie wie so oft den Kopf über die Menschen.

 

 

»Ahhhh …«, stöhnte Karl Hübner, genannt Kalle, ein paar Wochen später in der »Weißen Scholle« und nahm einen Schluck Bier aus der Dose. 

 

»So lässt es sich leben, was?«

 

Er tätschelte der barbusigen Frau neben ihm den Oberschenkel und rutschte ein Stück näher. Unter dem Vorzelt des Wohnwagens hatte sich die Hitze gestaut, aber die beiden saßen zufrieden in ihren luxuriösen Klappsesseln, ließen sich von einem Ventilator den Wind ins Gesicht und vom Campingradio Helene Fischer ins Ohr pusten. Beate Mikow geschiedene Kosubke klappte lächelnd die Boulevard-Zeitschrift zu und drehte sich zu Kalle, als ihr Blick auf die letzte Seite fiel. 

 

»Das ist doch …!« Sie kniff die Augen zusammen. Das schwarz-weiße Foto auf der Rückseite der Zeitschrift zeigte einen nackten Mann, der in die Kamera grinste. Er stand in einem betonierten Innenhof und hielt vor seiner Körpermitte eine volle Mülltüte. Im Hintergrund war eine alte Klappliege zu sehen. Über dem Foto stand in fett gedruckter Schrift: Amtsgericht Köln: Nackter Vermieter im Hof kein Mietmangel. 

 

 

 

Ruth Katharina Breuer ist Juristin und Autorin. Das Schreiben hatte sie beim Erwachsenwerden zunächst aus den Augen verloren und erst Jahre später auf einer Insel wiederentdeckt. Gerade steuert sie auf die Veröffentlichung ihres ersten Buches zu. Die Ideen für ihre Geschichten findet sie im täglichen Leben. Auch ihr Text »Nackte Tatsachen« fand seinen Ursprung in einer Schlagzeile, die auf einem wahren Gerichtsurteil beruhte.

© Der Schuhschnabel. ISSN 2942-1756. Alle Rechte bei den Autor:innen. 

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