Online-Dating ist nichts für alte Männer

von Marc Du Buisson

Als alle vier Mitglieder des Ü80-Stammtisches endlich an ihrem Platz saßen, gab ich meine große Neuigkeit bekannt: »Ich bin auf Tinder.« Die anderen antworteten mit fragenden Blicken.

 

»Online-Dating.«

 

»Inline-Skating?« Paul sah mich komisch an.

 

»Paul hat seine Hörgeräte wieder nicht eingeschaltet«, sagte Frank und zeigte auf seine Ohren. Paul verstand die Geste und schaltete sie ein.

 

»Besser?«

 

Paul nickte.

 

»Ich mache jetzt Online-Dating«, wiederholte ich.

 

»Weshalb?«, fragte Peter, der seit über fünfzig Jahren verheiratet war.

 

»Weil mein Enkel findet, dass ich mich wieder unters Volk mischen sollte.« Seit dem Tod meiner Frau vor fünfzehn Jahren hatte ich niemanden mehr getroffen.

 

»Online-Dating ist nichts für alte Männer«, erklärte Paul abwinkend.

 

»Ich bin nicht alt.« Stolz präsentierte ich meine Muskeln.

 

Peter schüttelte den Kopf. 

 

»Du musst mehr Vollmilch trinken«, meinte er. »Fettarme hast du schon!«

 

Der ganze Tisch begann zu lachen. Auch wenn der Witz auf meine Kosten ging, lachte ich mit.

 

»Ich bin neugierig, wie das funktioniert«, sagte Frank, der sich als Erstes vom Lachen erholt hatte.

 

»Ganz einfach: Dir wird ein Foto von einer Frau gezeigt. Wenn sie dir gefällt, dann schiebst du sie nach rechts. Gefällt sie dir nicht, dann schiebst du sie nach links.«

 

»Tönt langweilig«, sagte Paul. »Da schaue ich lieber einen Porno.« 

 

Gerade in diesem Moment kam Isabelle an den Tisch. Die Zwanzigjährige, die sich mit diesem Job das Studium finanzierte und uns hasste, weil wir nie Trinkgeld gaben. Paul lächelte sie schüchtern an, doch sie schüttelte bloß ihren Kopf und stellte unseren Kaffee auf den Tisch.

 

Frank zurück zum Thema: »Was dann?«

 

»Wenn ich Glück habe, dann hat eine Frau, die ich nach rechts geschoben habe, mich ebenfalls nach rechts geschoben. Wenn das passiert, haben wir einen Match?«

 

»Fußball oder Tennis?«, fragte Frank.

 

»Ich hoffe Fußball?« Peter schaute mich an. »Im Tennis bist du scheiße.«

 

»Nein, nein, nein.« Ich hielt mir die Hand an die Stirn. »Ein Match ist ein Treffer. Das heißt, dass beide Personen sich füreinander interessieren.«

 

»Und dann trifft man sich, oder was?«, fragte Frank.

 

»Nein, zuerst schreibt man einander und lernt sich kennen.«

 

»Man kann sich auch kennenlernen, wenn man sich trifft, ist viel einfacher«, meinte Peter und hatte nicht unrecht.

 

»Ich folge nur der Anleitung meines Enkels.«

 

Frank zeigte auf Paul, dessen Augen geschlossen waren. 

 

»Hey Paul!«, rief er. »Hat dich Gott endlich zu sich geholt?«

 

»Nein.« Paul öffnete langsam seine Augen. »Der schläft gerade.«

 

»Wieso?«, wollte ich wissen.

 

»Weil er dir zugehört hat.«

 

Erneut begannen alle zu lachen. Erneut auf meine Kosten. Während die anderen sich kaum mehr einkriegen konnten, holte ich mein Smartphone aus der Tasche und öffnete die App. Vielleicht war es einfacher, wenn ich es ihnen zeigen würde.

 

»Hier sind die Bilder.« Eine Frau mit weißen Haaren Mitte siebzig strahlte mich an. Ich zeigte es zuerst Paul, der mit weit aufgerissenem Mund sagte: »Peter, ich wusste gar nicht, dass deine Frau da auch mitmacht.«

 

Peter spuckte den Kaffee aus seinem Mund: »Was?!« Frank sah sich das Foto als Nächstes an. Er schüttelte seinen Kopf und zeigte auf seine Augen: »Paul hat seine Brille nicht auf.« Peter atmete erleichtert durch, sah sich das Foto dennoch an, um auf Nummer sicher zu gehen.

 

»Sympathisch«, meinte Paul, nachdem er sich das Foto mit Brille angesehen hatte. »Die gehört nach rechts.« Ich folgte seinem Rat und kaum hatte ich sie nach rechts geschoben, benachrichtigte mich die App, dass ich einen Match hatte. Ich klickte auf ihr Profil.

»Ihr Name ist Lisa. Sie ist 73 Jahre alt und strickt gerne vor dem Fernseher.«

 

»Zum Glück hat Paul seine Hörgeräte eingeschaltet«, meinte Frank und alle fingen wieder an zu lachen.

 

»Komisch«, sagte ich. »Im Feld Ich suche nach stehen nur drei Buchstaben. ONS. Hat jemand eine Ahnung, was das bedeutet?«

 

»Es kann für das Medikament Ondansetron stehen«, antwortete Peter, der bis zu seiner Pensionierung als Arzt gearbeitet hatte. »Es hilft gegen Übelkeit und Erbrechen.«

 

»Danach wird sie wohl kaum suchen«, meinte ich.

 

»Vielleicht ist es eine Droge«, schlug Paul vor. »Das neue LSD.«

 

»Ich weiß es«, sagte Frank, der stets vorgab auf dem neusten Stand der Technik zu sein. »ONS steht für Online Network Services. Wird in der Telekommunikationsbranche tagtäglich verwendet.«

 

»Also sucht sie bloß nach einer besseren Internetverbindung?«, fragte ich verwirrt. Frank nickte und sowohl Paul als auch Peter hatten nichts dagegen einzuwenden. Isabelle hingegen, die unsere ganze Unterhaltung mitgehört hatte, während sie Peters ausgespuckten Kaffee vom Boden wischte, lachte.

 

»Was ist so lustig?«, fragte Paul.

»Ihr seid sooooo alt.«

 

»Sag uns etwas, dass wir nicht selbst schon wissen.« Paul schaltete demonstrativ seine Hörgeräte aus, damit er sich Isabelles Sprüche nicht länger anhören musste.

 

»ONS hat weder etwas mit Medikamenten oder Drogen noch mit der Internetverbindung zu tun«, erklärte sie uns. »Es steht für One Night Stand

 

»Das ist Englisch«, sagte Peter und streckte seinen Finger in die Luft. Er war der Einzige von uns, der des Englischen mächtig war. 

 

»Aber wieso sollte sie nach einem Nachttisch suchen?« Isabelle schüttelte ihren Kopf und versteckte das Gesicht hinter ihren Händen.

 

»Ein One Night Stand ist kein Nachttisch. Es handelt sich dabei um eine sexuelle Interaktion zwischen zwei Personen, die sich nicht kennen und nicht die Absicht haben, die Beziehung weiterzuverfolgen.« Während sich die anderen das Gehörte noch durch den Kopf gehen ließen, tippte ich eine Nachricht auf meinem Smartphone: Heute Abend, neun Uhr, bei dir?

 

»Wenn es heute kein Trinkgeld gibt, dann weiß ich auch nicht«, sagte Isabelle im Weggehen. Paul klopfte Frank auf die Schulter: »Wozu braucht sie ein Spielfeld?« Frank antwortete so laut, dass es Paul auch mit ausgeschalteten Hörgeräten verstand: »Trinkgeld!«

 

»Auf keinen Fall«, antwortete Paul. »Sie hat uns als alt bezeichnet.«

 

»Das sind wir auch«, sagte Peter.

 

»Ist mir egal.« Paul verschränkte trotzig seine Arme.

 

Ein Klingelton lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf mein Smartphone. Lisa hatte auf meine Nachricht geantwortet: Ich freue mich auf dich und am Schluss ihre Adresse genannt. Ich schluckte einmal und konnte kaum fassen, was heute Abend passieren würde. Doch damit es überhaupt passieren konnte, brauchte ich noch etwas. In Gedanken verloren hatte ich nicht gemerkt, dass Isabelle wieder am Tisch stand und uns fragte, ob wir noch etwas brauchten.

 

»Ich brauche Viagra.« Alle sahen mich schockiert an. Nur Pauls Gesichtsausdruck passte nicht ins Bild.

 

»Wozu brauchst du eine Papaya?«

 

»Damit er steht«, antwortete Isabelle mit einem Lächeln.

 

»Für sein Pferd?«

 

Frank sagte Paul, dass er seine Hörgeräte wieder einschalten sollte und erklärte ihm, um was es gerade ging. Nach ein paar Sekunden schien er begriffen zu haben, was das bedeutete.

 

»Doch interessanter als ein Porno«, meinte Isabelle und zwinkerte Paul zu, bevor sie davonlief.

 

»Wie heißt diese App nochmal?« Paul holte sein Smartphone aus seiner Tasche.

 

Ich schmunzelte. Von wegen Online-Dating ist nichts für alte Männer.

 

 

 

Marc Du Buisson wurde 1993 im Kanton Solothurn in der Schweiz geboren und verbrachte dort seine ganze Kindheit. Das Sport- und Englischstudium führte ihn in die Hauptstadt Bern, wo er bis heute lebt.  Nach dem Abschluss der Pädagogischen Hochschule begann er als Lehrer für Sehbehinderte und Blinde zu arbeiten. Seit mehreren Jahren schreibt er Romane und Kurzgeschichten und nimmt regelmäßig an Schreibwettbewerben teil. Im Juni 2023 erschien der Text namens »Die letzten Worte« in der Anthologie Und was ich dir noch sagen wollte ... (Bd. 2). Im Oktober desselben Jahres wurde die Kurzgeschichte »Fehlendes Kleingeld« in der Anthologie Das Lotto-Ritual veröffentlicht.

© Der Schuhschnabel. ISSN 2942-1756. Alle Rechte bei den Autor:innen. 

Wir benötigen Ihre Zustimmung zum Laden der Übersetzungen

Wir nutzen einen Drittanbieter-Service, um den Inhalt der Website zu übersetzen, der möglicherweise Daten über Ihre Aktivitäten sammelt. Bitte prüfen Sie die Details und akzeptieren Sie den Dienst, um die Übersetzungen zu sehen.