Zimmer frei in Kreuzberg

von Michael Kolja Kölling

Plötzlich ist das andere Zimmer in meiner 2er-WG frei und ich suche mal wieder ein*e Mitbewohner*in. Das sollte ja nicht so schwer sein, denke ich, der Mietvertrag ist zehn Jahre alt, die Wohnung liegt in Kreuzberg, das Zimmer ist groß und sonnig… Ich schreibe also eine nette kleine Anzeige: Ich suche ein*e Mitbewohner*in zwischen 25 und 35, der oder die gerne mit mir zusammen kocht und auch mal ein Bier mit mir trinken möchte. Über alles Weitere können wir ja persönlich reden. Ich packe noch ein paar Bilder dazu und lade alles bei WG-Gesucht.de hoch. 30 Sekunden später habe ich zehn neue E-Mails, eine Minute später ist mein Postfach verstopft, dann bricht das Internet zusammen und das Licht geht aus. Habe ich einen Fehler gemacht?

 

Ich gehe in den Flur, mache die Sicherung rein, es wird wieder hell und jemand klopft an der Tür. 

 

Ich mache auf: Das ganze Treppenhaus ist voll mit jungen Leuten. Ich knalle die Tür sofort wieder zu und höre sie rufen:

 

»Ich koche auch gerne!«

 

»Ich bin Bierbrauer!«

 

Sie klopfen ununterbrochen gegen die Tür, aus dem Klopfen wird ein Hämmern, die Tür wackelt. Panisch schiebe ich einen Schrank vor die Tür und mich überkommt eine böse Ahnung. Ich schleiche ans Fenster: Sie stehen überall. Die Straße sehe ich nicht mehr. Auf Schildern lese ich:

 

 

4-Sterne-Koch. Vegetarisch, vegan, scheißegal

 

10 Jahre WG-Erfahrung

 

Ich putze gerne

 

Ich putze noch viel lieber als der neben mir

 

Mehrere Leute hängen Hängematten zwischen die Bäume, andere bauen Zelte auf. Ich mache das Licht aus und stelle mich tot.

Am nächsten Morgen sind sie immer noch da. Als Paketbote verkleidet krieche über den alten Kaminschacht und unseren Keller ins Nachbarhaus, von dort aus gelange ich über einen ehemaligen Luftschutzbunker in die Parallelstraße. Auch hier ist alles voller Zelte. Überall sitzen Grüppchen um Feuerstellen und kochen Kaffee oder rösten ein paar gefangene Spatzen und Tauben. Ich ziehe mein Basecap tief ins Gesicht und gelange unerkannt zur U-Bahn.

 

Im Berliner Fenster schreibt die B.Z.: WG-Zimmer in Neukölln für unter 250 Euro! Hunderttausende haben sich auf den Weg gemacht. UN richtet Lager ein.

 

In der Uni betrete ich den Seminarraum und nicke dem Professor zu.

 

»Sie hier? Damit hätte ich nicht gerechnet.«

 

Alle drehen sich zu uns um. Verdammte Scheiße, der hat sich doch noch nie an mich erinnert!

 

»Das ist der mit dem Zimmer!«, ruft einer. Ein anderer schwingt ein Lasso. Ich renne los, raus auf den Flur, die Horden mir hinterher. Einige springen nach mir. Ich weiche aus, renne im Zickzack. Netze landen neben mir auf dem Boden. Betäubungspfeile zischen an mir vorbei. Ich gelange nach draußen, renne die Straße entlang, drehe mich kurz um: Es müssen Tausende sein. Über uns kreisen Helikopter. Verdammt nochmal, ihr sollt mich nicht filmen, ihr sollt mir helfen! Plötzlich kommen auch von vorne Massen und ich renne ins nächste Gebäude, eine Treppe hoch, einen Gang entlang. Am Ende des Ganges ist eine Tür. Ich reiße sie auf, renne hinein und sitze in der Falle: keine weitere Tür. Jemand schließt hinter mir ab. Ich drehe mich um. Das ist die eine aus meinem Seminar, die ich immer verstohlen angucke, aber so habe ich sie noch nie gesehen. Sonst schläft sie immer fast ein. Jetzt ist sie sprungbereit, zu allem entschlossen. Ich schließe meine Augen und hoffe, dass es nicht allzu sehr wehtun wird, wenn sie sich gleich auf mich stürzt und mir ihre Zähne in den Hals schlägt, um mein Blut auszusaugen. Stattdessen haucht sie mir ins Ohr: »Ich mache alles, was du willst.«

 

Vorsichtig mache ich ein Auge auf und jetzt wird mir alles klar: Wie das Kapital auf der Suche nach Rendite das Leben in den Städten zerstört, was das mit den Menschen macht, wieso der Markt genau das will und niemals billigen Wohnraum schaffen wird u-n-d was nun zu tun ist. Ich muss sofort zu den Massen sprechen und sie haucht mir wieder ins Ohr: »Alles, was du willst.«

 

Äh …

 

»Hör zu«, sage ich, »lass uns jetzt nichts überstürzen, du bist ein Opfer des Marktes und die privatisierten Rentenfonds treiben dich in eine Abhängigkeitsspirale aus der …«

 

Sie schaut irritiert. Dann legt sie mir einen Finger auf den Mund, schaut mir tief in die Augen und sagt: »Du bist mir schon das ganze Semester über aufgefallen.«

 

»Niedrigzinsen …«, stammle ich. Sie legt eine Hand auf meinen Oberschenkel und mein Kopf geht aus –

 

Als ich wieder zu mir komme, denke ich, ich könnte mein Zimmer auch häufiger bei WG-Gesucht.de rein… nein! Entschlossen und nackt trete ich auf einen Balkon, der da plötzlich ist, und verkünde den Massen und Helikoptern:

 

»Ich habe eine neue Mitbewohnerin!«

 

»Ohh«, kommt aus 100.000 enttäuschten Mündern und die Massen wenden sich enttäuscht ab, aber ich rufe ihnen zu: »Freunde, das ist doch kein Zustand, wir müssen uns organisieren und etwas gegen die Miethaie und die profitgeilen Aktiengesellschaften machen! Wir müssen uns mit unseren Nachbarn zusammenschließen und dürfen nicht auf die Parteien warten, sondern sollten selber anfangen!«

 

Ja und dann ging’s los, wir haben die Aktiengesellschaften enteignet, die Wohnungen in die Hände der Mieter überführt, Gesetze geschaffen, dass nur noch gemeinwohlorientierte Gesellschaften Wohnungen besitzen dürfen und als wir das alles geschafft hatten, haben wir uns wieder den schöneren Seiten des Lebens zugewendet und erstmal ordentlich gefeiert!

 

 

 

Michael Kolja Kölling wurde 1986 in Berlin geboren und ist auch in Berlin aufgewachsen. Nach zwei längeren Auslandsaufenthalten in Neuseeland und Lateinamerika hat er in Berlin einen Ingenieur für erneuerbare Energien studiert. Er hat aber weder im Studium noch im Beruf seine Leidenschaft entdeckt, so dass er immer wieder in anderen Bereichen unterwegs war und dabei vor allem in der Lehre. Daher hat er schließlich den Weg des Ingenieurs verlassen und ist seitdem Quereinsteiger-Lehrer an einer Schule in Berlin. Er schreibt seit meiner Kindheit und hat seitdem unzählige Kurzgeschichten, Gedichte und Lieder geschrieben und nimmt auch regelmäßig an Poetry Slams teil. Inhaltliche Schwerpunkte seiner Arbeiten sind humoristische Texte sowie die Themen Beziehungen und persönliche Entwicklung. Von 2014 bis 2018 war er außerdem Sänger und Songschreiber der Band »15 Liter Bratensoße«.

© Der Schuhschnabel. ISSN 2942-1756. Alle Rechte bei den Autor:innen. 

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